- Offizieller Beitrag
„Große Freude“ von Susanne Hornfischer
Seit langem ist Sabine nicht in der Kirche gewesen. Aber jetzt, nach dem Bummel über den Weihnachtsmarkt, friert es sie durch und durch, und der Bus fährt erst in dreißig Minuten. So gibt sie sich einen Ruck, drückt auf die eiserne Klinke, die fast in Augenhöhe angebracht ist, und öffnet die schwere Holztür. Zögernd betritt sie das Foyer. Durch riesige Glaswände ist es vom Kirchenschiff abgetrennt. Eine umfangreiche Pinnwand mit Zetteln, Postern und kirchlichen Bekanntmachungen erweckt Sabines Interesse:
“Die schönsten Arien aus dem Weihnachtsoratorium am 3. Adventssonntag um 17.00 Uhr” liest sie auf einem großen Plakat. Ein kleineres, bescheiden anmutendes lädt ein zur “Christvesper mit unseren Jungscharkindern am Heiligabend um 16.30 Uhr”.
Sabine späht verstohlen ins Kirchenschiff. Es scheint leer zu sein. Unerwartet leicht lässt sich die dicke Glastür nach außen aufziehen. Wärme strömt Sabine entgegen. Es riecht nach Tannen. Im schwach erleuchteten Chorraum erheben sich zwei riesige Christbäume, über und über mit Strohsternen geschmückt. Langsam und vorsichtig auftretend, um das Geräusch ihrer Stiefelabsätze zu dämpfen, geht Sabine den Mittelgang entlang nach vorn und bleibt vor den Stufen stehen, die zum Chorraum hinaufführen. Auf dem spiegelglatten Steinboden vor dem Altar liegen bemalte Pappen und einige aufgeschichtete Holzscheite.
Sabine geht einige Schritte zurück, schiebt sich seitlich in eine Bankreihe und setzt sich. Die Stille ist ungewohnt, aber Sabine empfindet sie als wohltuend. Nur wenige Meter vom geschäftigen, lauten Markttreiben entfernt ist sie hier in einer anderen Welt. Einige flackernde Kerzen auf den Altarstufen ziehen Sabines Blicke auf sich. Ihre Gedanken beginnen zu wandern. Ihre Hochzeit, die Taufen und Konfirmationen der Kinder: Alles hatte hier in dieser Kirche stattgefunden.
Wie oft schon hatte sie den Segenszuspruch der Pfarrer entgegengenommen und auch im Alltag ganz bewußt mit Gottes Wirken gerechnet. Wie viel Gutes hatte sie auch wirklich im Lauf ihres Lebens erfahren. Segen: Gutes aus Gottes Hand und aus Menschenhand. Manchmal auch Schweres, aber immer viel Freude und Momente des Glücks. Bis zu dem Tag, an dem sie den Brief auf ihrem Kopfkissen fand. “Es tut mir leid. Ich habe eine andere Frau lieb gewonnen. Verzeih mir bitte!”, stand da in der Handschrift ihres Mannes. Sabines Welt war zusammengebrochen - und ihr Glaube dazu.
Seit Jahren lebte sie nun schon mit den Kindern allein. Die wurden langsam flügge und zumindest die Großen brauchten sie nur noch wenig.
Hoffentlich bleiben sie wenigstens Heiligabend zu Hause, denkt Sabine und hat doch in Wirklichkeit keine Hoffnung. Die beiden Ältesten würden wohl gleich nach der Bescherung verschwinden und mit Freunden feiern. Und die Kleine sollte sowieso schon nachmittags von ihrem Vater abgeholt werden und die Weihnachtstage bei dessen neuer Familie verbringen. Traurige, einsame Festtage werde ich in diesem Jahr haben, denkt Sabine und gibt sich gleich darauf einen Ruck: Dieses schreckliche Selbstmitleid!
Im gleichen Moment ist es auch mit der äußeren Stille vorbei. Die Tür der Sakristei wird aufgerissen und eine lärmende Schar von Jungen und Mädchen stürmt in den Altarraum. “Macht doch nicht solchen Krach, Kinder!” Die Stimme gehört einer jungen Frau, die als Letzte herein kommt. Mit großen Schritten durcheilt sie den Altarraum, überwindet flink die drei Stufen nach unten und wirft ihren Mantel über die Banklehne der ersten Reihe. Gerade will sie sich setzen, als sie Sabine bemerkt, die zwei Reihen weiter hinten sitzt. Sabine steht schnell auf und ruft der jungen Frau zu: “Ich geh schon. Ich will Sie nicht stören.”
“Nein, nein! Sie stören doch nicht. Bleiben Sie ruhig hier!” Die Frau macht eine beschwichtigende Handbewegung. Sabine nickt und nimmt wieder Platz. Sie wirft einen Blick auf ihre Uhr: Sie kann noch eine Viertelstunde bleiben. “Seid ihr so weit?” Die junge Frau wendet sich den Kindern zu. “Wir proben noch mal die Szene auf dem Feld. Stellt die Pappschafe auf und geht auf eure Plätze! Markus, knips bitte die beiden Taschenlampen unter dem Holz an.
- Ja, so sieht es einigermaßen nach Lagerfeuer aus. Also, fangt an!” Die Kinder sind mit alten Pelzmänteln und löcherigen Felljacken, Schlapphüten und langen Stöcken ausstaffiert. Unverkennbar sind hier Hirten versammelt, Hirten auf den Feldern von Bethlehem.
Der größte von ihnen, ein blonder Junge mit Lockenkopf, beginnt: “Brüder, es ist kalt geworden. Kommt, rückt näher ans Feuer und wärmt euch!” Unter Gemurmel schlurfen die Hirten von den Seiten näher an das Lampen-Lagerfeuer heran. Zwei kauern sich nieder und reiben ihre Hände vor den “Flammen”.
Plötzlich wirft ein Scheinwerfer grelles Licht in ihre Mitte. für kurze Zeit sind die Hirten geblendet und weichen erschrocken einige Schritte zurück. Schreckensrufe werden laut: “Was ist das? - Herr, hilf!” Auch Sabine muß kurz die Augen schließen. Als sie sie wieder öffnet, sieht sie von einer Seite des Altarraums einen als Engel verkleideten Jungen auf die Hirten zugehen. Mit klarer Stimme beginnt er zu sprechen: “Habt keine Angst, ihr Hirten! Der Höchste hat mich zu euch geschickt. Ich bringe euch ...!”
Er gerät ins Stocken. “Ich bringe euch...!” Auch ein verzweifelter Blick an die Decke hilft ihm nicht weiter. Die anderen Kinder stöhnen und verdrehen die Augen. “Scheinwerfer aus!” Die junge Frau ist hastig aufgesprungen. Sabine hört Ärger in ihrer Stimme. “Freude! Ich bringe euch Freude! Wir haben das doch schon so oft geübt. Ich versteh einfach nicht, dass du an dieser Stelle immer nicht weiter weißt. Versuch´s noch mal, Christian. Und denk an die Freude! Konzentrier dich auf die Freude!”
Sabine hört nicht mehr zu, als die Kinder weiter proben. Sie bekommt nicht mit, dass der Engel schließlich seinen Text ohne Schwierigkeiten spricht und die Probe auch sonst reibungslos verläuft. Der letzte Satz der jungen Frau hat Sabine tief getroffen: “Konzentrier dich auf die Freude!”
Sabine hat den starken Eindruck, dass Gott dadurch direkt zu ihr gesprochen hat. Auf was habe ich mich in den letzten Jahren konzentriert? Ständig bin ich um meine Sorgen und Ängste gekreist. Dabei sollte ich die Freude fest im Auge behalten, die der Engel damals den Hirten angekündigt hat. Die Hauptsache festhalten: Jesus ist in eine kaputte, dunkle Welt gekommen, um die Menschen der Finsternis zu entreißen und sie heil zu machen. So kommt er auch noch heute zu den Menschen, die sich auf ihn einlassen. Und er bringt Freude mit.
Ich habe zugelassen, dass mein Leben sich verfinsterte, weil ich Jesus ausgesperrt habe. Ich war von ihm enttäuscht und drehte ihm den Rücken zu. Dabei hätte ich ihn gerade in der schwersten Zeit gebraucht. Ich habe mich all die Jahre selbst um die Quelle des Trostes, der Kraft und der Freude gebracht. Dabei hatte ich es doch vorher so oft geübt, diese Quelle anzuzapfen...Bietet mein verschmähter Herr mir hier neu die Freude an? Seine Freude?
Der freundliche Gruß: “Auf Wiedersehn, und ein gesegnetes Fest!” reißt Sabine aus ihren Gedanken. Sie blickt hoch und sieht die junge Frau vor sich stehen, die sich mit diesen Worten von ihr verabschiedet. “Danke, gleichfalls!”, erwidert Sabine. “Und vielen Dank auch für Ihre Worte.” - “Meine Worte? Was meinen Sie?” Die junge Frau zieht die Stirn in Falten. “Das mit der Konzentration auf die Freude”, antwortet Sabine. “Ach so! Na, das war eigentlich nicht so schön, dass ich da die Geduld verloren habe. Aber wir haben diese Stelle schon so oft...” “Nein, nein!”, fällt Sabine ihr ins Wort. “Das mußten Sie wohl sagen. Das war für mich sehr wichtig. Und deshalb habe ich mich dafür bedankt. Bitte sagen Sie auch Christian einen Gruß und Dank von mir.”
Der Bus ist längst weg, als Sabine endlich die Kirche verläßt. Sie muß auf den nächsten warten. Aber das stört sie nicht. Auch nicht die schneidende Kälte und der beginnende Schneefall. Sie ist wieder auf den Zug aufgesprungen, den sie lange Zeit für abgefahren gehalten hat.
"Große Freude" © Susanne Hornfischer
Diese wunderschöne Erzählung ist von Susanne Hornfischer. Ich bekam sie als Weihnachtsgruß zu Weihnachten 2008 von Thomas Stüber, dem Gemeindevorstand der Rüsselsheimer ev. Stadtmission, per E-Mail zugesandt. Schon beim ersten Lesen war ich beeindruckt von dieser tiefgründigen Geschichte.
Danke, Susanne! Danke, Thomas!